Das Goslarer Brusttuch: Vom Patrizierhaus zum Hotel
Historischer Stadtplan: Blick auf Brusttuch und Kaiserworth im Jahr 1803. Foto: Piegsa
Das Brusttuch ist eines der schönsten Goslarer Fachwerkhäuser. Die Bauarbeiten begannen bereits im Jahr 1521. Das ehemalige Patrizierhaus wurde später als Hotel genutzt. Ende 2024 erwarb die Hans-Joachim Tessner-Stiftung das Haus.
Goslar. Innerhalb der früheren Stadtbefestigung mit ihren Mauern, Türmen, Toren und Kasematten bietet die Altstadt von Goslar eine nahezu unübersehbare Fülle an historischen Bauwerken. Sie reichen von der Pfalz, der Domvorhalle, den Kirchen, dem Rathaus, den Hospitälern und den Gildehäusern über gewerbliche Bauten wie den Mühlen und Braustätten hin zu den Wohnhäusern von Patriziern, Handwerkern und Bergarbeiterfamilien.
Das Brusttuch gehört wie die Kaiserworth zu den eindrucksvollsten Häusern in Goslar. Anders als die Kaiserworth war es ursprünglich kein Gilde-, sondern ein Patrizierhaus. Aber wie die Worth wurde es im 19. Jahrhundert zum Hotel umgenutzt. Und wie bei der Worth eröffnet die Hans-Joachim Tessner-Stiftung als neue Eigentümerin dem früheren Wohnhaus des wohlhabenden Patriziers Johannes Thiling und seiner Frau Alheit Wegener nach mehr als zweijährigem Leerstand nun eine Zukunft im Umfeld des Marktplatzes und im Welterbe Goslar.
Der Bauherr des Brusttuches, Johannes Thiling, gehörte einer seit dem 12. Jahrhundert in Goslar ansässigen Familie an. Er war Sohn eines Kaufmanns, studierte in Leipzig und Frankfurt (Oder) Jura und erwarb den Titel eines Magisters. Als vermögender und gebildeter Bürger konnte er Reichtum und Bildung mit seinem Wohnhaus an dieser exponierten Stelle gegenüber der Turmfront der Marktkirche baulich zur Schau stellen.
30 Jahre jünger als die Worth
Das Brusttuch ist drei Jahrzehnte jünger als die Worth. Es wurde von Thiling möglicherweise in zwei Bauabschnitten 1521 und 1525/26 errichtet. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Jahreszahl 1521 über dem Spitzbogenportal an der Giebelfront auf die Hochzeit Thilings mit Alheit Wegener hinweist, da sie mit dem Allianzwappen des Bauherren und seiner Frau kombiniert ist.
Der trapezförmige Grundstückszuschnitt an der Einmündung des Hohen Weges und des Stobens in die Marktstraße hat zur Folge, dass die Giebelseite des Hauses relativ schmal in einen steilen Spitzgiebel ausläuft, während sich das Gebäude nach Süden deutlich verbreitert und die Dachneigung bei gleichbleibendem First- und Traufverlauf flacher ausgebildet wird. Auf dem steinernen Erdgeschoss mit gotischen Fensterumrahmungen sitzt ein reich geschnitztes Fachwerkgeschoss auf. Die schmale Giebelseite mit dem Eingangsportal wird durch einen mittig angeordnetem Erker zusätzlich betont. Da es gegen Ende des 15. Jahrhunderts Mode wurde, die sehr engen und kurzen Männerröcke (Wams) über der Brust aufzuschneiden und mit einem steifen, meist andersfarbigen Stück Stoff, dem Brusttuch, auszufüllen, und auch bei Frauen das Dekolleté mit einem Brusttuch zu verhüllen, könnte der Name des Hauses hierher rühren. Anders sieht es Sieglinde Bauer: Sie erkennt darin einen auf ein Gewässer bezogenen Flurnamen und sieht auch in der Bezeichnung eines Raums des Brusttuches einen Hinweis auf Wasser.
Hohe spätgotische Fenster
Im steinernen Erdgeschoss befindet sich hinter dem ursprünglichen Bogenportal, das um 1870 durch den Einbau von Steinen, die von einer Kaminrahmung stammen, verkleinert wurde, die Diele. An der Fassade wird die Diele durch ihre hohen Fenster ablesbar. Sie sind mit spätgotischen Steinmetzarbeiten geschmückt. Ähnlich dürften ursprünglich auch die Fenster der Worth verziert gewesen sein. Im hinteren Teil des Erdgeschosses machen am Hohen Weg die übereinander angeordneten kleineren Fenster den Wohnteil und dessen Zwischengeschoss deutlich.
Der Südteil des Gebäudes bleibt rätselhaft. Hier schließt sich an eine massive Wand ein späterer Neubau an, an dessen Stelle sich zuvor ein Brauhaus befunden haben soll. In der Fassade zum Stoben ist ein spätromanisches Zwillingsfenster zu finden, das auf eine Kemenate, also einen steinernen Turmbau des 13. Jahrhundert hindeutet, der in den späteren Neubau einbezogen wurde.
Hans-Günther Griep berichtet von einem Gewässer, das hier unter dem Haus geflossen sei und zwei Zisternen gespeist habe. Ähnlich sei es beim Dukatenkeller der Worth der Fall gewesen. Anders als bei der Kaiserworth ist nördlich des ehemaligen Brauhauses und späteren Neubaus jedoch kein Vorgängerbau nachzuweisen. Wahrscheinlich entstand das Haupthaus des Brusttuches auf einem bis dahin unbebauten Gartengrundstück.
Das Obergeschoss aus Fachwerk kragt nicht über das Erdgeschoss aus. Ursprünglich dürfte es ein weitgehend ungeteiltes Speichergeschoss gewesen sein. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass Teilbereiche des Obergeschosses bereits von Beginn an zu Wohnzwecken ausgebaut waren. Hierauf deutet zumindest der reichverzierte Erker hin. Die heutigen Fenster des Obergeschosses stammen weitgehend aus dem Umbau der 1870er Jahre.
Reiches mythologisches Bildprogramm
Das Fachwerk zum Hohen Weg und an der Giebelseite ist auf Ständern, Fußdreiecken und Riegeln mit einem reichen astrologisch-alchemistischen, mythologisch-allegorischen Bildprogramm verziert. Demgegenüber ist die wenig im Straßenraum sichtbare Westfassade am Stoben nur mit Trapezfries und Fußdreiecken ohne Schnitzwerk ausgeführt.
Die Ständer zeigen am Hohen Weg die Planetengötter Saturn, Jupiter, Mars, Merkur, Luna, Venus und Sol. Sie sind denen des kurz zuvor entstandenen Huneborstelschen Hauses am Burgplatz in Braunschweig sehr ähnlich. Beiden Häusern wird der Holzschnitt des Planetenzyklusses von Hans Burgmair. d. Ä. als Vorlage gedient haben, der um 1510 gefertigt wurde. Durchaus möglich ist, dass die gleiche Schnitzerwerkstatt wie in Braunschweig am Brusttuch tätig wurde. Paul Jonas Meier, von 1901 bis 1924 Direktor des Herzoglichen Museums Braunschweig, spekulierte, dass das Huneborstelsche Haus vom einzigen aus jener Zeit in Braunschweig bekannten Bildhauer Simon Stappen verziert worden sein könnte. Diese bloße Vermutung wurde auf Goslar übertragen, hier aber als Gewissheit weitererzählt. Tatsächlich liegen keinerlei Quellen vor, die Stappen mit irgendeinem Fachwerkbau in Verbindung bringen.
Das Brusttuch beeindruckt durch seine kunstvollen Schnitzereien. Zu sehen sind unter anderem die Butterhanne (2. Knagge von links) und Saturn (rechter Ständer) Foto: Piegsa
Wie man den Teufel verjagt
Die Traufe des Daches kragt über die Fassade aus. Die Knaggen, die das Dachwerk tragen, sind mit Figuren geschmückt – „Hexen und Heiligen“. Hier regt die Butterhanne als „Prima Donna“ Betrachter zum Schmunzeln an. Butter war zu jener Zeit schwer herzustellen. Misslang das Buttern, wurden schnell böse Mächte verantwortlich gemacht. Insofern kann das „Leck mich“ der Butterhanne dem Teufel gegenüber als Abwehrzauber gelten. Möglich ist aber auch, dass der humanistisch gebildete Thiling an die politisch-religiösen Konflikte jener Zeit dachte, an die „Butterbriefe“, mit denen das verordnete lange Fasten tierischer Produkte abgelöst werden konnte. Ob Thiling im Teufel die Papstkirche sah? Die Butterhanne ist neben dem Dukatenmännchen am Kaiserworth das zweite Goslarer Wahrzeichen. Aber auch am Brusttuch ist ein Dukatenscheißer angedeutet: im nördlichsten Fußdreieck.
Auch der Erker an der Giebelfront ist reich verziert. Die Balkenköpfe enden mit den vier Temperamenten. Im Riegel der östliche Erkerseite hat Thiling sein „Türschild“ angebracht - in griechischen Buchstaben. Die Fenster des Erkers schließen oben mit Vorhangbögen ab. Insgesamt ist das Hausgefüge als spätgotisch anzusprechen; die Fassadengestaltung spiegelt jedoch den Zeitgeist der Frührenaissance und des Humanismus.
Das Brusttuch im Jahr 1893. Foto: Privat
An Bauunternehmer verkauft
Die Stadt, die mittlerweile Eigentümerin des Brusttuches war, verkaufte das baufällig gewordene, verwahrloste Gebäude 1870 an den Bauunternehmer Gustav Völker, der sich im Gegenzug unter anderem verpflichtete, das Küsterwohnhaus westlich der Marktkirche niederzulegen und eine neue Küsterwohnung im ehemaligen Brauhaus neu zu erstellen. Insgesamt wurde das Innere des Brusttuches vollständig verändert. Die Däle diente als „Wirtsstube“, das Obergeschoss beherbergte Gästezimmer.
Weitere Umbaumaßnahmen folgten. In den 1970er Jahren wurde ein Schwimmbad ins Dachgeschoss eingebaut. 2007 erwarb das Ehepaar Oberhuber, Eigentümer der Kaiserworth, das Gebäude. In ihrer Zeit erfolgte 2010/11 die Sanierung am Fachwerkgefüge und der Fassaden. Sie führte zur monochromatischen Farbgebung der zuvor farbig angestrichenen Schnitzereien. Diese Sanierungsmaßnahmen wurden mit bauhistorischen Untersuchungen begleitet. Eine Gesamtdarstellung der Baugeschichte des Gebäudes steht wie bei der Kaiserworth jedoch noch aus.
Ab 2017 zogen sich Oberhubers aus Altersgründen zurück. Wie beim Hotel Kaiserworth setzte damit auch der Niedergang des Brusttuches bis hin zum mehrjährigen Leerstand ein. Der Ende 2024 bekanntgewordene Erwerb des Hauses durch die Hans-Joachim Tessner-Stiftung verheißt eine neue Zukunft des Patrizierhauses.