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Trauer um Aleksandr Antoschtschuk

GZ Plus IconTod in Odessa: Sohn eines Goslarer Zwangsarbeiterkindes stirbt

Trümmer eines zerstörten Hauses mit rauchenden Steinen und verkohltem Holz, im Hintergrund ein Mann vor einem Tor und ein Haus mit rotem Dach.

Bildes des Krieges: Ein Anwohner inspiziert einen mit Trümmern bedeckten Hof eines durch einen russischen Drohnenangriff zerstörten Hauses in einem Wohngebiet im Bezirk Odessa. Foto: picture alliance/dpa/Ukrinform

Sein Vater kam als Kind von Zwangsarbeitern in Goslar zur Welt. Jetzt ist der Ukrainer Aleksandr Antoschtschuk in Odessa gestorben. Ein Goslarer Freund trauert.

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Von Frank Heine
Sonntag, 21.12.2025, 04:00 Uhr
Aleksandr Gennadievitsch Antoschtschuk ist tot. Er starb am 10. November in der umkämpften ukrainischen Hafenstadt Odessa im Alter von nur 55 Jahren „aus Leid an den Folgen des unseligen Krieges“, mit dem Russlands Präsident Wladimir Putin das Nachbarland seit nunmehr bald vier Jahren überzieht.
Ein Mann trägt eine Mütze mit geometrischem Muster und eine Jacke mit Reißverschluss.

Aleksandr Gennadievitsch Antoschtschuk Foto: Privat

Die Botschaft vom Tod Aleksandrs, kurz Sascha genannt, hat der gebürtige Goslarer Manfred Weule dieser Tage der GZ-Redaktion übermittelt. Er trauert um einen Mann, der 2016 als E-Mail-Freund in sein Leben trat, weil beider Familien ein Schicksalsband seit dem Zweiten Weltkrieg verbindet. Saschas Vater erblickte im März 1945 das Licht der Welt als Kind von Zwangsarbeitern, die in der Maschinenfabrik und Eisengießerei der Familie Weule registriert waren. Manfred Weule, selbst mit dem Geburtsdatum 28. Juni 1947 ein Nachkriegskind, hatte sich auf Spurensuche begeben und die Familie Antoschtschuk gefunden und kontaktiert. Die GZ berichtete ausführlich am 19. März 2022 über die gleichsam erschreckenden wie berührenden Hintergründe. Da lag der russische Überfall noch keinen Monat zurück. „Alles ist gut. Es gibt häufige Luftangriffe in Odessa, aber die Leute gewöhnen sich an die Sirenen“, hatte Sascha damals übermittelt. Jetzt ist diese Quelle verstummt.

AUS DER FAMILIENGESCHICHTE DER WEULES UND DER ANTOSCHTSCHUKS

Im November 2014 kehrt der Ethnologe und psychosoziale Berater Manfred Weule aus Österreich, wo er in der Nähe von Salzburg ein Zentrum für Lebensorientierung führt, zurück in die Stadt seiner Geburt, um einen Vortrag beim Verein „Spurensuche Harzregion“ zu halten. Im Vorjahr hatte er das Buch „Harzer Ahnenerde – Wiedereinwurzeln durch Sehnsucht, Mutter Afrika und Sturheit“ veröffentlicht, in dem er sich kritisch mit der (Groß-)Eltern-Generation auseinandersetzt. So berichtet seinerzeit GZ-Redakteur Heinz-Georg Breuer.

Ihm geht es, erklärt Weule zu seinen Kontakten zur Familie Antoschtschuk, um die Überwindung der „Erblast“ des Verschweigens, der stummen Tabus und deren Weitergabe von einer Generation zur nächsten. Zum Kontext gehört für den Nachkommen einer alteingesessenen Alt Wallmodener Familie unweigerlich auch die 1895 gegründete Maschinenfabrik Hermann Weule und ihre Rolle im Krieg mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern.

Manfreds Großvater Hermann Weule war Sohn des Pumpenherstellers Heinrich Weule aus Alt Wallmoden. Bruder Karl war erster deutscher Lehrstuhlinhaber für Völkerkunde an der Uni Leipzig. Heinrich war Bruder von Johann Friedrich Weule, Gründer der Turmuhrenfabrik in Bockenem. Dessen Sohn Wilhelm Weule begründete 1896 die Fabrik für optische Apparate im Schleeke.

Drei Männer in Anzügen und Hüten sitzen auf einem Gartenstuhl vor einem Gebäude mit Fenstern und Kletterpflanzen.

Die Goslarer Weule-Dynastie: Von rechts Hermann Weule, Großvater von Manfred und Inhaber der Maschinenfabrik an der Okerstraße, Wilhelm Weule, Inhaber der Glasschleiferei im Schleeke, und Karl Weule, Ethologie-Professor in Leipzig. Alle drei sterben innerhalb eines halben Jahres zwischen Dezember 1925 und Juni 1926 (entnommen dem Buch „Harzer Ahnenerde“ von Manfred Weule). Foto: Privat

Die Maschinenfabrik Hermann Weule wurde von den Söhnen Hermann Weule und Ernst Weule weitergeführt und 1973 verkauft. Aufgrund verschärfter Umweltauflagen wurde 1976 die Produktion eingestellt. Später residierte dort ein Baumarkt. Jetzt ist dort der Özdemir-Market angesiedelt, ein Indoor-Spielplatz und eine Moschee sind im Werden. Manfred Weules Geburtshaus stand in einem Zipfel zum Odermarkplatz hin, räumlich noch vor der in den Gründerjahren von der Uhrmacher-Verwandtschaft angebrachten Turmuhr.

Im Frühsommer 2016 meldet sich Martin Weule noch einmal in Goslar zu Wort. Er erinnert daran, dass sein Großvater Hermann Weule am 3. Juni 1926 bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen war. Nach seinen Recherchen hatte der Firmenchef einem Lehrjungen das Leben gerettet. Er eilte hinzu, als eine am Kran hängende Last abzustürzen und den Lehrling zu erschlagen drohte, stieß den Jungen beiseite und wurde selbst getroffen.

Goslar und die Firma Weule waren nur eine kurze Episode für den Hochofeningenieur Grigorij Antoschtschuk und seine Frau Anna. Nach Eintrag ins Goslarer Zwangsarbeiterarchiv war die hochschwangere Militärärztin der Roten Armee mit ihrem Mann im Januar oder Februar 1945 aus dem Ruhrgebiet über Watenstedt nach Goslar gekommen. In Duisburg-Rheinhausen hatte sie zwischen 1942 und 1944 im Krankenhaus Zwangsarbeiter aus dem Krupp-Werk betreut. War es bereits die erste Etappe zurück in die Heimat gewesen? Am 15. März wurde in Goslar Sohn Gennedij geboren. Im Juli 1945 brach die kleine Familie wieder auf. fh

Angenehmer und vertrauter Austausch

Es sei sehr angenehm gewesen, mit Sascha per E-Mail allmählich vertrauter zu werden und sich über viele Dinge auszutauschen, schreibt Weule von seinem Wohnort Schalchen in Österreich. „Fotos, Musik und Dokumente zu schicken – danke dafür“, spricht Weule ihn direkt an. Auch dessen Mutter Alla Wassiljevna habe Anteil am Kontak genommen. Aktuelle Fotos zeigten Sascha als einen für sein Alter erstaunlich jung wirkenden Mann. Er habe als Nachrichtentechniker bei der ukrainischen Staatsbahn gearbeitet und sei nicht ganz gesund gewesen. „Beides ersparte ihm den Militärdienst“, erklärt Weule. Im Januar 2025 starb die Mutter, mit der er zusammen lebte, und ließ ihn „einsam und ohne Verwandte zurück“.
Älteres Paar geht Arm in Arm auf einem nassen Weg, umgeben von mehreren Personen und Bäumen ohne Blätter.

Der im August 2016 verstorbene Gennadij Antoschtschuk erblickt als Kriegskind und Sohn von Zwangsarbeitern, die in der Firma Hermann Weule Maschinenfabrik & Eisengießerei registriert waren, am 15. März 1945 das Licht der Welt. Das Foto zeigt ihn mit seiner Frau Alla Wassiljevna, die im Januar 2025 starb. Foto: Privat

Seine Freundin war demnach im ersten Kriegsjahr außer Landes gegangen und half Weule, von Saschas Tod zu erfahren. „Sie beschreibt ihn als freundlichen und großzügigen Mann mit reiner und leuchtender Seele“, schreibt Weule. Beide wollten nach dem Krieg wieder zusammenkommen und ihr Alter gemeinsam verbringen. Daraus wird nun nichts mehr. Ein weiterer Traum, den Putin mit der Invasion zerstört hat. „Sascha, wir werden dich nicht vergessen und wünschen mit dir und deiner Partnerin ein rasches Ende dieses schrecklichen Krieges“, schließt Weule.
Älterer Mann mit weißem Haar trägt eine dunkelgraue Jacke und ein bordeauxrotes T-Shirt, im Garten sitzend.

Manfred Weule Foto: Agentur

Zwangsarbeiter in der Firma Weule

Wie hingen die Familien Antoschtschuk und Weule zusammen? Gennadij Antoschtschuk, Saschas Vater, wird als Kriegskind am 15. März 1945 geboren – in Goslar. Sein Vater wiederum hieß Grigory, seine Mutter Anna, geborene Kusnjezowa. Beide waren mit sechs anderen Ukrainern als Zwangsarbeiter in der dortigen Firma Hermann Weule Maschinenfabrik & Eisengießerei registriert. Weitere vier russische und zwei polnische Zwangsarbeiter weisen die im Stadtarchiv erhalten gebliebenen Meldeblätter aus jener Zeit aus. Acht Menschen aus Osteuropa ist dort keine Staatsangehörigkeit zugewiesen.

Manfred Weule beschäftigt die Auseinandersetzung mit seinen Ahnen und der Familiengeschichte sehr. In Goslar arbeitet er mit einem Vortrag beim Verein Spurensuche Harzregion im November 2014 die Weule-Vergangenheit im „Dritten Reich“ auf (siehe Kasten). Und er forscht und sucht immer weiter. Sein erster Versuch, über die Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau Kontakt zu den ehemaligen Weule-Zwangsarbeitern aufzunehmen, ist nicht von Erfolg gekrönt. 2016 hilft der Internationale Suchdienst der Unesco in Bad Arolsen. Weule bekommt die Adresse der Antoschtschuks, die mit der Weiterleitung ihrer Daten einverstanden sind.

Seine Motive? „Weil ich weiß, dass vielen Menschen in meiner Heimatstadt Leid angetan wurde und weil Zuhören und Versöhnung so wichtig sind.“ Seine Eltern hätten von den Zwangsarbeitern immer sehr positiv gesprochen, eine Polin habe zum Beispiel immer auf meinen älteren Bruder Bernhard aufgepasst. „Aber sie haben – wohl aus Scham – leider darüber geschwiegen, welche Verbrechen von anderen begangen wurden“. Weule hat Fragen: „Wie wurden Sie in der Weule-Fabrik behandelt? Von meinen Eltern? Von den Kapos? Wie in der Stadt? Wissen Sie etwas über das Lager Petersberg? Gibt es auch positive Erinnerungen?“

Zustand verschlimmert sich

Sein Brief vom 3. Juni 2016 erreicht in Odessa den inzwischen 71-jährigen Gennadij Antoschtschuk. Die Antwort schreibt aber schon dessen Sohn. Der Vater war kurz vor Erhalt des Schreibens schwer erkrankt. Er wird im Krankenhaus behandelt, hofft auf Besserung. Aber sein Zustand verschlimmert sich. Er stirbt am 31. August 2016. Er sei sehr erfreut gewesen, schreibt der Sohn über den Vater, „dass es Menschen gibt, die sich für das Schicksal von KZ­-Häftlingen und Zwangsarbeitern interessieren“. Er habe den Weule-Brief wiederholt gelesen und lange auf dem Tisch liegen lassen in der Absicht, ihn nach seiner Gesundung zu beantworten. Es kommt nicht mehr dazu.
Ein Mann im Anzug und eine Frau mit Rock und Pullover gehen nebeneinander auf einem Gehweg, im Hintergrund Bäume und weitere Personen.

Hochofeningenieur Grigory Antoschtschuk und seine Frau Anna, Militärärztin bei der Roten Armee, waren aus dem Ruhrgebiet nach Goslar gekommen. Foto: Privat

Sein Sohn und seine Witwe übernehmen die Korrespondenz. Sascha schreibt: „Mein Vater sprach Englisch und Deutsch. ... Über das Leben in der Stadt Goslar erzählte mein Vater sehr wenig. Er war damals zu jung. Welche Details ihm seine Eltern davon erzählt haben, wissen wir nicht. Aber seine Geburt in der Knechtschaft hat sein ganzes Leben sehr beeinflusst. In die offiziellen Papiere wurde ein russischer Geburtsort am Kaukasus eingetragen: die Stadt Essentuki (Jessentuki). Aber dem KGB war bekannt, dass er eigentlich in der Stadt Goslar geboren war.

Als Sohn von Volksfeinden betrachtet

Er wurde als Sohn von Volksfeinden betrachtet. Das machte sein Leben sehr kompliziert. Es erlaubte ihm nicht, das Studium auf dem Fachgebiet zu beenden, das er gewählt hatte. Es war das Institut für Seewesen. Obwohl er einer der besten Studenten war und Kapitän werden wollte, hat man ihn im letzten Studienjahr des Instituts verwiesen.

Er wurde gewarnt, dass man ihn nicht ins Ausland reisen lassen würde. Und als er beschloss, sein Studium fortzusetzen, um als Kapitän in sowjetischen Gewässern zu arbeiten, wurde ihm das verweigert. Er hat in verschiedenen Fabriken gearbeitet. Er war Stahlkocher, dann Elektriker. Er kannte sich sehr gut mit allen elektrischen Geräten aus. Er hatte verschiedene Hobbys.“

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