Wenn aus Albtraum Wirklichkeit wird

„Andri“ wird auch noch am Boden liegend getreten. Links: Am Anfang demonstrieren „Andorras“ Bürger noch für Toleranz. Fotos: Meyer-Zurwelle
Technomusik, deren pochender Rhythmus immer stärker beschleunigt, Filmszenen, die die dunkle, geschützte Aula im Christian-von-Dohm-Gymnasium (CvD) mit dem harten Licht der Leinwand und der Kälte in den Worten, die die Menschen in den gezeigten Episoden sprechen, zu zerschneiden scheinen.
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In „Andorra“, dem fiktiven Staat aus Max Frischs gleichnamigen Drama, bleibt keiner verschont. Weder „Andri“, Hauptfigur, geschlagenes und getretenes Flüchtlingskind, noch der Zuschauer kann am Ende den Parolen der sogenannten „Schwarzen“, dem mächtigen Nachbarvolk, das jeden Fremden verfolgt und ermordet, entfliehen.
Was die Theatergruppe des CvDs unter der Regie von Tanja Woitinas und Axel Dücker hier auf die Bühne bringt, zeigt einmal mehr, wie sehr Schüler in so einem Projekt über ihre Grenzen hinauswachsen können. Was die Jugendlichen bei der Premiere zeigen, ist von einer Aussagekraft und Eindrücklichkeit, von der sich mancher Sonntags-Tatort, in dem ja auch nicht selten Fremdenfeindlichkeit zum Thema gemacht wird, noch etwas abschauen könnte.
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Man nimmt Woitinas ohne Umschweife ab, dass die jungen Darsteller sich mehrere Male ohne ihre Mentoren trafen, um noch Extraproben einzulegen. Denn hier verwächst jeder so sehr mit seiner Rolle, dass es nicht nur schwerfällt, Einzelne hervorzuheben, sondern auch, nach dem letzten Vorhang direkt wieder ins Jetzt zurückzukommen. Nicht nur einmal gibt es während der Aufführung Anlass, zu erschaudern. Denn, was die Zuschauer zu sehen bekommen, ist so nah dran an dem, was da draußen in der Welt immer wieder geschieht. Zu nah.
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Das liegt auch daran, dass eben immer wieder die Filmszenen gezeigt werden, die so vor nicht allzu langer Zeit über die ganz realen Nachrichtenbildschirme flimmerten. Bilder von brennenden Asylantenheimen und von den Ausschreitungen in Chemnitz, von Menschen, die im Jahr 2018 ihre Arme zum Hitlergruß heben. Und Bilder von der Demonstration in Goslar, im vergangenen Juni, als in der Kaiserstadt ein Naziaufmarsch stattfand – und glücklicherweise eine große, bunte Gegendemo.
1961 wurde „Andorra“ im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt, 2019 spielen es Schüler in Goslar. Und es ist aktueller denn je. Bis ins Detail haben Darsteller und Produzenten hier an der Heraufbeschwörung dieser bedrückenden Atmosphäre gearbeitet. Selbst in der Pause wird der Besucher von den „Schwarzen“ eingeholt, wenn die bunten Stellwände hinter der Bar plötzlich mit ihren Flaggen verdeckt werden.
Und damit ist das Schicksal „Andris“, des vermeintlichen Flüchtlingsmädchens, das noch dazu homosexuell ist und in die eigene (Stief-)schwester verliebt, besiegelt. „Ich kann tun, was ich will, sie drehen es immer gegen mich“, sagt „Andri“. „Der Algorithmus macht keine Fehler“, erklärt die Ärztin, als „Andri“ von einem Gesichtsscanner als Mörderin für schuldig erklärt wird. „#AndorraAgain“, die modernisierte Max-Frisch-Fassung der CvD-Theatergruppe, ist einmal mehr aufrüttelnd, macht nachhaltig nachdenklich – und sollte genau deshalb von so viel Publikum, wie nur möglich, gesehen werden.
Das Stück wird heute sowie am Freitag und Samstag um 19Uhr im CvD gezeigt. Karten gibt es an der Kasse für 6 (ermäßigt 4) Euro.