Das hatten wir auch noch nicht: einen Popstar aus Armenien. Rosa Linn heißt in Wirklichkeit Roza Kostandyan, ist 22 Jahre alt und kommt aus Wanadsor, der mit 120.000 Einwohnern drittgrößten Stadt des Binnenlandes im Kaukasus, das insgesamt drei Millionen Einwohner hat, zu 90 Prozent aus Gebirge besteht und so groß ist wie Brandenburg. Rosa, die absolut fließendes Englisch spricht und ausgesprochen ausgeschlafen wirkt, mischt mit ihrem an den Indie-Pop einer Lily Allen erinnernden Song „Snap“ gerade überall mächtig die Charts auf. Und das, obwohl sie beim ESC mit der Nummer nur unter ferner liefen landete. Wir unterhielten uns mit Rosa Linn über ihr Lied, ihre Leidenschaften und ihr Heimatland.
Schön wär’s! Nein, ich fliege von Jerewan ab und steige in Istanbul um, das dauert insgesamt mehr als zehn Stunden. Anschließend fliegen wir noch nach England und nach Schweden, später im Jahr will ich in die USA reisen, um dort an meinem Album zu arbeiten. Das Leben ist wahnsinnig aufregend gerade, jeder Tag ist anders.
Social Media ist natürlich extrem wichtig für mich. Manchmal hätte ich auch Lust, irgendetwas anderes zu machen als Inhalte fürs Internet zu kreieren, aber das muss halt definitiv sein, das ist ein Teil meines Jobs. Was ich am Internet wirklich gern mag, das ist der Austausch mit den Menschen. Ich unterhalte mich praktisch jeden Tag online mit Freunden oder auch mit Wildfremden, die meine Musik gehört haben und neugierig auf mich geworden sind.
Also erstmal ist das natürlich nichts, mit dem du rechnest, wenn du nachts um 4 Uhr in deinem Schlafzimmer einen Song schreibst. Ich denke, „Snap“ berührt deshalb, weil der Song superehrlich und extrem persönlich ist. Ich war alles auf einmal, als ich ihn schrieb – emotional, angsterfüllt, wütend, verliebt, liebesbekümmert. Gleichzeitig ist das Lied eine Art Protestsong – gegen die Engstirnigkeit und generelle Doofheit vieler Leute (lacht). Ich war zu dem Zeitpunkt kurz davor, überzuschnappen. Stattdessen brachte ich dann „Snap“ zur Welt.
Als Songwriter mit inzwischen etwas Erfahrung habe ich auch gespürt, dass „Snap“ etwas Besonderes ist. Ich nehme mir niemals vor, einen Hit-Song zu schreiben, denn das ruiniert die ganze Geschichte sofort. Aber ich kann schon halbwegs einschätzen, welcher Song was wird und welcher nicht. Ein guter Song muss außerdem nicht immer auch kommerziellen Erfolg haben.
Das bleibt so ein bisschen mein Geheimnis. Sagen wir, ich saß an dem Tag in einem Flugzeug auf dem Rückweg nach Armenien, und etwas auf diesem Flug verändert mein Leben. Es war ein Wendepunkt.
So eine Mega-Überraschung ist das für mich gar nicht! Mein Auftritt fühlte sich supertoll an, ich bekam großartige Reaktionen von unzähligen Menschen, die mir sagten, wie sehr sie den Song lieben. Aber in dem Wettbewerb selbst hast du nur sehr wenig Zeit, und eine Menge Aspekte müssen ineinandergreifen, damit du Stimmen von den Leuten bekommst. Aber wie ich schon während der Veranstaltung sagte: Ich will die Künstlerin sein, an die man sich auch nach dem ESC noch erinnert. Eurovision war für mich nicht das Ende. Eurovision war für mich der Anfang.
Ungefähr mit 11 oder 12. Ich konnte damals schon Gitarre spielen, und ein Piano hatten wir auch zuhause. So richtig ernsthaft begann ich die Sache etwa mit 17 zu nehmen, als ich Kontakte knüpfte zu Nvak Records, einem kleinen Musiklabel in den USA. Wir arbeiten seitdem sehr gut zusammen, und vor Jahren veröffentlichte ich meine erste Single, ein Duett mit Kiiara. Ich hatte also schon ein bisschen Erfahrung sammeln können. Der ESC und der Rummel seitdem sind zwar krass und cool, aber das alles ist auch kein totaler Sprung ins kalte Wasser. Ich arbeite seit Jahren hart und bin vorbereitet.
Nein, nein, mit 17 gab es noch keine Karriere, nur eine superhungrige Träumerin, die sich nicht scheute, auf andere zuzugehen und Kontakte zu knüpfen. Ich war Austauschschülerin in Wisconsin. Toll war das. Eine ganz neue Erfahrung in einer ganz anderen Welt. Natürlich habe ich an meiner High School auch Theater gespielt und im Chor gesungen.
Nein! Es hat mich eher angestachelt. So nach dem Motto „Ihr werdet schon sehen“ (lacht). Es war schon schwer für mich. Ich komme nicht mal aus der Hauptstadt Jerewan, sondern aus einer unbekannten Kleinstadt. Wanadsor ist nicht London und nicht Berlin. Du hast nicht in jeder Straße einen Teenager, der Musik machen will. Ich war die Einzige. Aber ich meinte es wirklich ernst, und tief in mir glaubte ich daran, dass ich es packen werde. Ich kann singen, Klavier und Gitarre spielen. Ich bin auf der Welt, um Musik zu machen und hatte als Jugendliche viele Unterhaltungen mit mir selbst. Die Energie, die ich dem Universum schickte, schickt das Universum nun zu mir zurück.
Mein größtes Idol ist Ozzy Osbourne.
Die sind auch cool, aber Ozzy ist der Coolste. Ich entdeckte ihn mit 15. Ich war eine Teenagerin, die wie wohl alle Teenager teils harte und unschöne Erfahrungen mit dem Erwachsenwerden machte. Ich war stur und zielstrebig, aber Armenien ist ein konservatives Land mit einer konservativen Kultur. Ein Mädchen, das internationale Popmusik machen will? Naja. „Mach‘ erstmal die Schule fertig“ war noch das freundlichste, was ich so zu hören bekam. Ozzy jedenfalls hat mir unheimlich Mut gemacht mit seinem Song „Life Won’t Wait For You“. Den habe ich wirklich unendlich oft gehört. Das Leben wartet nicht auf uns. Wir müssen selbst durch die Tür gehen. Und wenn sie zu ist, müssen wir sie mit aller Macht aufstemmen.
Adele, Sting, Andrea Bocelli und Troye Sivan finde ich zum Beispiel toll. Grundsätzlich bin ich ein Melodienmensch. Die Melodie ist das Wichtigste, auch in meinen Songs kommt sie immer zuerst.
Dann kann ich nur sagen: Kommt alle her. Unser Land ist klein, es ist nicht reich, und für eine junge Künstlerin ist es nicht gerade das einfachste Sprungbrett. Aber ich liebe mein Land, ich bin mit jeder Zelle meines Körpers und meines Gehirns Armenierin. Die Kultur, das Essen, die Herzlichkeit, überhaupt die Menschen, wundervoll. Aber alle sorgen sich immer um das Geld, es ist schwer, einen guten Job zu finden und ausreichend Bildung zu bekommen. Wir hängen Jahrzehnte zurück. Armenien ist ein Entwicklungsland mit vielen Problemen. Es ist in vielen Dingen nicht mit Europa vergleichbar.
Ja, aber nicht in einem inakzeptablen oder repressiven Sinn. Es ist eher auf freundliche Art konservativ. Familie hat größte Priorität, und das Denken ist noch eher klassisch. Aber wir werden langsam freier und moderner, und man hat mir auch keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt.
Jeder, der in Armenien lebt, wächst mit Sorgen auf. Wir sind uns der brisanten politischen Situation sehr bewusst. Aber als Künstlerin widme ich mich nicht der Politik, da ichdie Menschen nicht entzweien, sondern einen möchte. Ich kann nur sagen: Jeder Krieg ist tragisch und furchtbar. Mein Herz blutet, wenn jemand leidet aufgrund der Entscheidungen von jemand anderem. Ich bin zu 100 Prozent für Frieden.