Die Deutschen nehmen die Entnazifizierung in eigene Hände
Bildmaterial zum politischen Nachkriegsgoslar ist rar. Die Aufnahme zeigt, wie Friedrich Klinge am 20. Dezember 1948 wieder eine Ratssitzung leitet. Oberstadtdirektor Helmut Schneider (3.v.l.) und sein Stellvertreter Heinrich Wulfert (l.) flankieren den stehenden Oberbürgermeister. Foto: Archiv Geyer/Stadtarchiv Goslar
Nach dem Krieg gründen sich die Parteien neu – auch in Goslar. Die Deutschen nehmen die Entnazifizierung in eigene Hände. Letzte Folge der GZ-Serie zum Kriegsende.
Goslar. Trotz des prinzipiellen Versammlungsverbotes gestattete die Militärbehörde Treffen von politischen Interessengruppen. Denn eine republikanische Ordnung konnte nur von parteipolitisch organisierten Vereinigungen hergestellt werden. Die Bildung politischer Parteien wurde in der britischen Zone offiziell mit der Verordnung Nr. 12 vom 15. September 1945 zugelassen. Erst auf Kreisebene, ab Dezember 1945 auf Landesebene, wurden nach Prüfung entsprechende Lizenzierungen vergeben.
In Goslar soll der Gründungsaufruf der CDU „Deutsches Volk“ unter Leitung von Dr. Otto Fricke schon im Juni 1945 in kleinem Kreis, aus dem sich später die örtliche CDU-Organisation entwickelte, debattiert worden sein. Die Gründungstagung der CDU im später geschaffenen Land Niedersachsen fand am 15. November 1945 statt. Im damaligen Land und späteren Bezirk Braunschweig konstituierte sich die CDU am 7. Dezember 1945. In Celle hatte sich im Juni 1945 mit der Niedersächsischen Landespartei (NLP) eine politische Gruppierung gebildet, die nach welfischer Tradition Politik machen wollte. Sie hatte auch in Goslar ihre Anhänger. Die SPD reorganisierte sich im Herbst 1945 mit altgedienten Kräften neu und erfüllte auf einer Mitgliederversammlung am 27. Januar 1946 die formalen Voraussetzungen für einen Stadtverband. Auch die von Verfolgung ihrer Mitglieder besonders betroffene KPD schaffte es, sich wiederzufinden.GZ-Serie zum Kriegsende 1945
Goslars erste politischen Gehversuche unter britischer Besatzung
CDU ist stärkste Kraft in der Stadt
Die Briten wählten Personen aus diesen Parteien aus, als sie gemäß einer neu erlassenen Gemeindeordnung im Januar 1946 einen Gemeinderat zusammenstellten. „Nur auf diese Art von lokaler Selbstverwaltung, bei der jeder Deutsche selbst zu denken hat, kann Deutschland damit rechnen, in Zukunft ein Mitglied der Vereinten Nationen zu werden“, betonte Kommandant Major Hinxman auf der konstituierenden Sitzung am 29. Januar 1946. Dies Gremium sollte den nächsten Schritt Richtung Demokratisierung bilden, bis im Herbst 1946 erstmals wieder seit 1929 freie Kommunalwahlen in Goslar zugelassen wurden. Bei den Gemeindewahlen des Landkreises Goslar am 13. Oktober wurde die SPD mit 44,1 Prozent stärkste Kraft vor der CDU mit 31,4 Prozent. Die Stadt Goslar wich von diesem Trend ab, der sich sonst im Braunschweiger Land in allen Wahlkreisen zeigte. Hier siegte die CDU mit 47,7 Prozent vor der SPD mit 34,6 Prozent. Aufgrund eines besonderen Wahlverfahrens zogen 20 Christdemokraten und sechs Sozialdemokraten in den Rat ein.GZ-Serie zum Kriegsende 1945
Nach dem Ende des Krieges: Nur die ärgsten Nazis fliegen raus
Entnazifizierung in eigener Hand
Zur erfolgreichen Herstellung einer neuen Rechtsordnung und der Schaffung von Grundlagen für eine demokratische politische Entwicklung gehörte für die Briten die Eliminierung des Nazismus als Bedingung. Nach den ersten von den Alliierten vorgenommenen Internierungen und Entlassungen von NS-Personal sollten die Deutschen diese Entnazifizierung, wie nun die Identifikation und Sanktionierung von Parteigenossen und -genossinnen bezeichnet wurde, selbst in die Hand nehmen – bei Kontrolle durch die Besetzungsbehörden. Mit der Instruktion Nr. 28 vom Dezember 1945 wurde etwa 300 britische Mitarbeiter auf Kreis-, Regierungsbezirk- und Provinzebene im Rahmen der „Public Safety Branch“ für die Überwachung der Entnazifizierung, die von deutschen Ausschüssen geregelt wurde, zuständig.
Galerie der früheren Goslarer Oberbürgermeister und Verwaltungschefs: Sie hängt im Verwaltungsgebäude an der Charley-Jacob-Straße und reicht von Dr. Rudolf Wandschneider beziehungsweise Rudolf Bosse bis hin zu Dr. Oliver Junk. Foto: Heine
Formalisiert und festgeschrieben wurde die angestrebte Entnazifizierung der Deutschen mit der Directive Nr. 24 vom 12. Januar 1946 und der Zoneninstruktion Nr. 3 vom 17. Januar 1946, die, mehrmals novelliert, bis März 1947 ihre Gültigkeit behielt.n dieser Anfangsphase des Entnazifizierungsprocederes ging es um die Frage von Entlassungen am Arbeitsplatz in Verwaltung und Großindustrie in drei Kategorien: 1. muss entlassen werden, 2. kann entlassen werden, 3. einwandfrei. Diese Kategorien galten bis Mitte 1947, danach wurden die Kategorien auf fünf erweitert. Der Ausschuss gab die Beurteilung an die höhere Instanz weiter, diese versah sie mit einer Empfehlung und gab sie zur Entscheidung der Public Safety.
Umfangreiche Fragebögen
Auf Stadt- und Kreisebenen wurden Entnazifizierungssauschüsse aus als unbescholten und unbelastet geltenden Personen gebildet, denen auf Bezirks- beziehungsweise Landesebene Kontrollorgane zur Seite gestellt wurden. Betroffene, und das waren mit Ausnahme von offensichtlich Verfolgten des NS-Regimes prinzipiell alle erwachsenen Deutschen, hatten wahrheitsgetreu umfangreiche Fragebögen auszufüllen. Zu Biografien und Aktivitäten im NS-Staat, seinen Partei- und Massenorganisationen musste Auskunft erteilt werden. Diese Angaben wurden im Ausschuss ausgewertet und beurteilt. Er durfte formal keine eigenen Nachforschungen anstellen, doch die lokalen Mitglieder wussten oft, mit wem sie es zu tun hatten, kannten zumindest politisch-biographische Daten, um eine Entscheidung zu fällen.
In Goslar konstituierte sich der Ausschuss am 2. Januar 1946. Vorsitzender wurde der Stadtrat und Rechtsanwalt Dr. Ernst Schulze. Als Mitglieder fungierten Fabrikant Gerhard Weule als Vize sowie der Arbeiter Willi Zenker, Gewerkschaftssekretär Max Pitschel, Architekt Joachim Grasshoff, Tischlermeister Fr. Albert Wichmann und Kaufmann Heinrich Gahrns. Er hatte in den folgenden Jahren in wechselnder Besetzung viel zu erledigen. Wenige wurden tatsächlich sanktioniert. Viele Betroffene garnierten ihre ausgefüllten Bögen mit Leumundszeugnissen und anderen Stellungnahmen Dritter, die ihnen edle Gesinnung trotz NSDAP- oder sonstiger Mitgliedschaft bescheinigten.Sieben neue Stolpersteine für Goslar
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Trügerische Vorstellung
Die Vorstellung der Alliierten, über diese Überprüfungsaktionen dem Nazismus in Deutschland den Garaus zu machen, erwies sich bald als trügerisch. Dennoch konnte, wie wir retrospektiv wissen, der mühsame Weg zur Schaffung eines demokratischen städtischen Gemeinwesens und insgesamt einer demokratisch verfassten Republik insgesamt erfolgreich beschritten werden. Gesichert ist damit noch gar nichts, wie die Angriffe auf unsere rechtsstaatliche Ordnung im Heute zeigen. Denn es gilt nach wie vor, was Theodor W. Adorno in seinem berühmten Essay von 1959 zur Aufarbeitung der Vergangenheit feststellte: „Das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie [ist] potenziell bedrohlicher, denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“.
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